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Wie Israels junge Fußballer ein gespaltenes Land vereinen

Ololade Adewuyi | Felix Tamsut
9. Juni 2023

Israels Fußball-Junioren verpassen den Einzug ins Endspiel der U20-WM in Argentinien. Doch bereits das unerwartete Erreichen der Vorschlussrunde wird in Israel gefeiert - in allen Bevölkerungsgruppen.

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Israels U20-Nationalteam während des Abspielens der Nationalhymne vor dem WM-Halbfinale gegen Uruguay.
Israels U20-Nationalteam sorgte bei der WM in Argentinien für FuroreBild: Luis RobayoAFP/Getty Images

Beispiellose Proteste gegen die Regierung. Eine Welle der Gewalt, die zu einer Rekordzahl von Todesopfern innerhalb der israelisch-arabischen Gemeinschaft führt. Eine sich ständig verschärfende Sicherheitslage im Westjordanland. Eine zerrissene Gesellschaft. Und dann kommt eine Gruppe junger Fußballspieler und ist bei einem Turnier erfolgreich, an dem einige sie nicht einmal teilnehmen lassen wollten.

Israel hat durch eine 0:1-Halbfinalniederlage gegen Uruguay zwar das Endspiel der U20-Weltmeisterschaft in Argentinien verpasst, doch schon der unerwartete Einzug in die Vorschlussrunde hat eine Bedeutung, die weit über den Fußball hinausgeht. 

Im März hatte der Weltverband FIFA die WM dem ursprünglichen Gastgeberland Indonesien entzogen. Grund waren politische Forderungen aus Indonesien, unter Verweis auf den Konflikt Israels mit den Palästinensern das für die Endrunde qualifizierte israelische Team von der U20-WM auszuschließen. Indonesien ist weltweit das Land mit der höchsten Anzahl an Muslimen und unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Argentinien war im April, wenige Wochen vor dem Turnierstart, als Ausrichter eingesprungen.

"Untypisches" israelisches Nationalteam

Die israelische Mannschaft zeigte während des Turniers große Moral und entpuppte sich als Spezialist für entscheidende Tore in der Schlussphase. So drehte das Team im letzten Gruppenspiel gegen Japan in Unterzahl das Spiel. Omer Senior traf in der 91. Minute zum 2:1-Endstand. Ähnlich dramatisch verlief das Achtelfinal-Duell gegen Usbekistan, in dem Anan Khalaili erst in der siebten Minute der Nachspielzeit zum 1:0 traf und seine Mannschaft damit erstmals ins Viertelfinale einer U20-WM schoss.

Dort warf Israel den Favoriten Brasilien mit einem 3:2-Sieg nach Verlängerung aus dem Wettbewerb. Die muslimischen Spieler Hamza Shibli und Khalaili feierten ihre jeweiligen Ausgleichstreffer mit der Gebetshaltung Sudschud: Sie knieten sich nieder und berührten mit dem Kopf den Rasen. Der jüdische Spieler Dor Turgeman widmete seinen Siegtreffer hinterher den Opfern des islamischen Terrorismus.

Stürmer Anan Khalaili dreht nach seinem Tor zum 1:1 im Viertelfinale gegen Brasilien mit breitem Grinsen ab.
Stürmer Anan Khalaili traf nicht nur beim Viertelfinalsieg gegen BrasilienBild: Andres Larrovere/AFP/Getty Images

Viele Israelis lobten in den sozialen Medien das Team von Trainer Ofir Haim. User bezeichneten die U20-Mannschaft als "die nicht-israelischste israelische Nationalmannschaft aller Zeiten", weil sie im entscheidenden Moment nicht enttäuschten - im Gegensatz zur A-Nationalmannschaft. Im Halbfinale verließ  die israelischen Junioren dann aber das Glück. Als Trost bleibt am Sonntag das "kleine Finale" gegen Südkorea, während Uruguay und Italien um den Titel spielen.

"Mundialito-Manie"

"Man kann sagen, dass das Land in einer 'Mundialito' [kleine WM - Anm. d. Red]-Manie ist", sagt Uri Levy von der Fußball-Internetplattform "Babagol" der DW. "Jede und jeder in Israel ist in diese Mannschaft verliebt, sogar meine fast 70-jährige Mutter, die sich vorher noch nie Fußball angeschaut hat." Die Übertragung des Halbfinals gegen Uruguay war mit einer Einschaltquote von rund 23 Prozent in Israel die meistgesehene Fernsehsendung an diesem Tag. Zum Vergleich: Das letzte Spiel der israelischen A-Nationalmannschaft gegen die Schweiz im vergangenen März hatten gerade mal 7,5 Prozent im Fernsehen verfolgt. Das erfolgreiche israelische Abschneiden bei der U20-WM hat viele überrascht, ist aber auch eine willkommene Ablenkung von der aktuellen gesellschaftlichen Situation.

Es sind turbulente Zeiten, die Israel durchlebt. Die Proteste gegen die Justizreformen der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dauern nun schon 22 Wochen an. Jeden Samstagabend gehen im ganzen Land Hunderttausende auf die Straßen, um für Demokratie und Gleichheit zu demonstrieren. Die Proteste richten sich auch gegen die Aufnahme rechtsextremer Politiker in die Regierung, allen voran gegen den Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir. Der Politiker macht aus seiner Bewunderung für den 1990 verstorbenen radikalen Rabbiner Meir Kahane keinen Hehl. Kahane hatte sich in den 1980er Jahren für die Deportation von Arabern aus Israel eingesetzt.

U20-Nationaltrainer Ofir Haim umarmt Stürmer Anan Khalaili.
Der Architekt des Erfolgs: U20-Nationaltrainer Ofir HaimBild: Andres Larrovere/AFP/Getty Images

Den gesellschaftlichen Spaltungstendenzen zum Trotz scheint Ofir Haim für Konsens zu stehen. Er wolle "dieses erstaunliche, wunderbare Land vereinen", sagte der U20-Nationaltrainer, der mit seinen emotionalen Reaktionen nach Spielende den Weg in die Herzen seiner Landsleute gefunden hat. Auch seine Spieler hätten "ein großes Herz", betonte der frühere Stürmer von Maccabi Tel Aviv, der seit 2021 als Trainer im israelischen Fußballverband arbeitet. "Wir hoffen, dass wir von dieser Mannschaft lernen können - sowohl im Fußball als auch in der israelischen Gesellschaft insgesamt", sagte der israelische Fußballkommentator Yonatan Cohen nach der Niederlage gegen Uruguay.

Arabische Schlüsselspieler

Einige der wichtigsten Spieler der israelischen U20-Auswahl kommen aus der arabischen Gemeinschaft des Landes. Hamza Shibli und Anan Khalaili, beide von Maccabi Haifa, erzielten bei der Weltmeisterschaft entscheidende Tore, und auch Ahmed Salman von Maccabi Netanya gehörte zu den Schlüsselspielern.

"Es macht uns glücklich und stolz, dass wir trotz all des Rassismus, den wir erleben, erfolgreich sind", sagt Sportanalytiker Nadin Aboud Laban mit Blick auf die Benachteiligungen, denen Araber in Israel ausgesetzt sind im Gespräch mit der DW. "Wir wissen, dass sich für sie [die arabischen U20-Nationalspieler - Anm. d. Red.] große Türen öffnen werden, und das macht uns wirklich stolz". Die arabische Minderheit in Israel sieht sich aktuell mit einer noch nie dagewesenen Welle der Gewalt konfrontiert. Allein in diesem Jahr wurden 97 Araber ermordet, im Vergleich zu 104 im gesamten Jahr 2022.

Hamza Shibli bejubelt mit herausgestreckter Zunge sein Tor zum 2:2 im Viertelfinale gegen Brasilien.
Offensivspieler Hamza Shibli ist einer der arabischen Schlüsselspieler im Team Bild: Ricardo Mazalan/AP/picture alliance

Yoav Fischer, Fußballfan und Geschäftsmann, der sein Geld mit Projekten in der Golfregion macht, glaubt, dass der Erfolg der U20-Nationalmannschaft auch zu mehr Akzeptanz zwischen der arabischen und der jüdischen Gemeinschaft in Israel führen kann. "Wenn Menschen aller Gruppen eine Mannschaft anfeuern und dieses Team alle Schichten der Gesellschaft umfasst, werden Spannungen abgebaut", sagte Fischer. "Die Probleme werden dadurch nicht beseitigt, aber die Menschen sehen, dass es ein gemeinsames Ziel gibt, ein gemeinsames Interesse und eine Zusammenarbeit auf dem Rasen."

Infrastruktur-Probleme verhindern Fortschritt

Viele israelische Fans hoffen, dass die Fortschritte des U20-Nationalteams dazu führen werden, dass sich die A-Nationalmannschaft in absehbarer Zukunft endlich wieder für eine große Endrunde qualifizieren kann. 1970 war Israel zum ersten und bislang auch einzigen Mal bei einer WM vertreten.

Fußballexperte Levy dämpft jedoch die Euphorie. Es reiche nicht aus, über qualitativ hochwertige Spieler zu verfügen. "Wenn ich mir allein anschaue, wie wir Spieler fördern: Die Gehälter der Jugendtrainer im Land sind niedrig. Und uns fehlen geeignete Sportanlagen, um den Fußball auf ein anderes Niveau zu heben und dafür zu sorgen, dass unsere Spieler besser werden."

Iddo Nevo, Sporthistoriker an der Hebräischen Universität in Jerusalem, sieht das ähnlich. "Jetzt sind alle glücklich. Es ist schön, ein erfolgreiches Team zu haben", sagt er. "Aber ich glaube nicht, dass sich dadurch das eher mittelmäßige Erscheinungsbild des israelischen Fußballs ändern wird." Um Israels Chancen auf der internationalen Bühne zu verbessern, müssten wenigstens einige Spieler der jetzt erfolgreichen U20-Mannschaft Verträge bei großen europäischen Vereinen erhalten, damit sie den nächsten Qualitätssprung schafften. Zudem müssten mehr junge Israelis für den Sport begeistert werden. "Das wäre die wichtigste Errungenschaft dieser Mannschaft. Wenn viel mehr Kinder anfangen würden, organisiert Fußball zu spielen, könnte sich etwas ändern", sagt Nevo. "Allerdings nicht jetzt, sondern in 20 Jahren."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.